Berlin. Nach über dreijähriger Auseinandersetzung mit dem Berliner Finanzamt reicht der Verein innn.it e.V. Klage gegen die Finanzverwaltung Berlin ein. Diese hatte dem Verein (damals noch Change.org e.V.) im vergangenen Jahr die Gemeinnützigkeit aberkannt und jetzt auch den Widerspruch dagegen endgültig zurückgewiesen.
Die Begründung für die Aberkennung schwächt die Position von Bürger*innen gegenüber Konzernen massiv. Denn nach Auffassung des Berliner Finanzamts sollen Bürger*innen in Zukunft keine Petitionen mehr an Unternehmen richten dürfen, wenn sie dafür kostenlose und gemeinnützige Angebote wie die Plattform innn.it nutzen wollen. Will der innn.it e.V. seine Gemeinnützigkeit behalten, zwingt das Amt den Verein, Petitionen an Unternehmen zu löschen oder zu bepreisen.
Parallel zur Klage des Vereins startet heute eine Petition auf innn.it/klage, die den Berliner Finanzsenator Daniel Wesener (B’90/Grüne) im Namen des innn.it-Teams auffordert, die Klage beizulegen und dem Verein seine Gemeinnützigkeit zurückzugeben.
Gregor Hackmack, Vorstand innn.it e.V.:
“Das ist ein Angriff auf die digitale Demokratie, den wir nicht akzeptieren können. Niemand darf abgeschreckt werden, sich gegen Großkonzerne wie Nestlé, VW und Co. zu wehren. Die Auslegung des Gemeinnützigkeitsrecht in diesem Punkt ist nicht nur juristisch falsch, sondern brandgefährlich für die gesamte Zivilgesellschaft.”
Die Klage wird unterstützt von Campact e.V., von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und der “Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung”. Die Prozessvertretung übernimmt die auf das Gemeinnützigkeitsrecht spezialisierte Kanzlei Schomerus.
Felix Kolb, Geschäftsführer von Campact e.V.:
“Wir begrüßen, dass innn.it e.V. Klage einreicht. Die Zivilgesellschaft ist doch keine Weihnachtsgans, die Stück für Stück zerlegt wird, bis am Ende kaum etwas übrig bleibt. Das kritische Auseinandersetzen mit Großkonzernen sowie das Aufzeigen von Missständen ist eine wichtige Aufgabe von gemeinnützigen Organisationen.”
Sarah Lincoln, Anwältin bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V.:
„Petitionen fördern demokratische Teilhabe – egal, ob sie sich an staatliche Stellen oder an Unternehmen richten. Unsere Demokratie lebt davon, dass sich Menschen einmischen, auf Missstände aufmerksam machen – dazu gehört auch Kritik an Unternehmen, etwa für massive Umweltverschmutzungen oder schlechte Arbeitsbedingungen.”
Stefan Diefenbach-Trommer, Vorstand “Allianz Rechtssicherheit für politische Willensbildung” e.V.:
„Der Fall innn.it e.V. ist leider einer von vielen. Zwar hat das Bundeskabinett gestern (14.12.2022) seinen Entwurf für ein Demokratiefördergesetz verabschiedet. Doch passende gemeinnützige Zwecke dafür fehlen weiterhin. Die Ampelkoalition muss 2023 ihr Versprechen einlösen, das Gemeinnützigkeitsrecht ins 21. Jahrhundert zu bringen und zivilgesellschaftliches Engagement entbürokratisieren.”
Karina Timmann, Petitionsstarterin:
„Ohne die Unterstützung des Teams vom innn.it e.V. hätten wir niemals die notwendige Aufmerksamkeit bekommen, um Coca-Cola davon abzuhalten, unsere Grundwasserpegel unwiederbringlich zu gefährden! Die Vereinsarbeit ist wichtig und muss gemeinnützig bleiben!“
Chronologie der bisherigen Ereignisse
Kurzlink: innn.it/klage
05.02.2019 | Einreichung unserer Steuererklärung für 2016 / 2017 |
25.04.2019 | Antwort und Klarstellung an das FA |
26.10.2019 | Ablauf vorläufiger Anerkennungsbescheid. Die Ausstellung von Spendenbescheinigungen wird eingestellt. |
03.12.2019 | Telefonat mit dem zuständigen Finanzbeamten |
11.12.2019 | Telefonat mit dem Büro des damaligen Finanzministers Olaf Scholz |
17.11.2020 | Treffen mit der Senatsverwaltung für Finanzen |
14.12.2020 | Gesprächsanfrage an Senator Kollatz erneuert per E-Mail |
17.12.2020 | Senatsverwaltung teilt unsere steuerrechtliche Einschätzung nicht, will sich aber auch nicht dazu durchringen, eine abschließende Entscheidung zu fällen. Dies soll erst im Januar 2021 fallen. |
25.01.2021 | Schriftliche Begründung der Senatsverwaltung mit der Ankündigung, dass Change.org e.V. die Gemeinnützigkeit aberkannt werden soll. |
24.02.2021 | Aberkennungsbescheid vom zuständigen Finanzamt für Körperschaften in Berlin |
18.03.2021 | Einreichung des Widerspruchs. Einspruchsbegründung am 12.05.2021 |
02.12.2022 | Zurückweisung unserer Widerspruchs gegen den Aberkennungsbescheid des FA |
15.12.2022 | Wir reichen Klage ein. |
21.02.2023 | Wir reichen unsere Klagebegründung ein. 65 Seiten. |
Mai 2023 | Das Finanzamt Berlin beharrt gegenüber dem Gericht auf lediglich zwei Seiten darauf, dass nur Petitionen an staatliche Stellen als gemeinnützig gelten können. |
November 2023 | Wir erfahren, dass wir die Klage gegen das Berliner Finanzamt vor dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg gewonnen haben. |
Januar 2024 | Das Finanzamt geht in Revision und begründet damit auch die Ablehnung unseres Eilantrags auf vorläufige Gewährung der Gemeinnützigkeit. Jetzt liegt die Entscheidung beim Bundesfinanzhof in München. Dort wird gegen Ende des Jahres über unseren Fall entschieden. |
April 2024 | Wir erfahren, dass wir nicht nur gegen das Berliner Finanzamt vor Gericht ziehen, sondern auch gegen das Bundesfinanzministerium. Übrigens das gleiche Bundesministerium, das immer noch keine Zeit gefunden hat, das Gemeinnützigkeitsrecht zu modernisieren (wie im aktuellen Koalitionsvertrag versprochen). |